Die beiden Trotzköpfe.

Eine Pfingst-Geschichte von R. v. Rawitz.
in: „Czernowitzer Allgemeine Zeitung” vom 03.06.1906


Das waren in Schloß Hohen-Wustrau schlechte Osterfeiertage gewesen: An Stelle der lieben Gäste, die der alte Graf und seine Gemahlin erwartet, waren zwei Briefe aus Berlin eingetroffen, deren flüchtig geschriebene Adressen schon nichts Gutes erwarten ließen, und deren Inhalt geradezu traurig lautete.

Der schmale, längliche Brief auf toile d'Alsace war das Schreiben der Tochter des Hauses; das hohe englische Kouvert empfing den Brief des Schwiegersohnes. Sie, die junge Freifrau von Reiningen, schrieb sechs Seiten, eng zusammengedrängte und vielfach von Tränen verlöschte Schriftzüge; er, der Baron, begnügte sich mit einer Seite. Aber der Inhalt des langen Briefes war derselbe wie jener der kurzen Mitteilung: „Wir können es nebeneinander nicht mehr ertragen, wir wollen Scheidung, — Scheidung um jeden Preis!”

Nach Eingang dieser Schreiben hatte die Gräfin sofort nach Berlin hinüberfahren und Frieden stiften wollen.

„Lieber Himmel!” sagte sie zu ihrem Gatten, der gedankenvoll seine Morgenpfeife rauchte, „in allen jungen Ehen gibt es ein wenig Krieg. Erinnerst du dich, Theodor, als wir auf unserer Hochzeitsreise in Innsbruck waren? Da haben wir uns auch einige bitterböse Wahrheiten gesagt, und nachher ist doch wieder alles gut geworden, und nun leben wir schon einundzwanzig Jahre in stillem Glück. Ich werde morgen nach Berlin fahren, den jungen Leutchen den Kopf zurechtsetzen und alles wieder ins Reine bringen.”

Der Graf hatte zugestimmmt, und am nächsten Morgen war schon der Wagen vorgefahren, der die Hausfrau von dem Rittergut nach der nächsten Eisenbahnstation bringen sollte, als die Herrschaften zu einem anderen Entschluß gelangten.

„Weißt du, Minchen,” sagte Graf Wustrau zu seiner Gattin, „ich habe in dieser Nacht kein Auge zugemacht und tausendmal hin und hergesonnen. Und schließlich bin ich zu dem Resultat gelangt: Du solltest lieber nicht fahren. Höre, weshalb. Weun du jetzt plötzlich in Berlin erscheinst, so gewinnt die Geschichte einen ernsthaften Anschein. Dieses junge Volk, das zusammen noch nicht so alt ist wie ich — denn 20 plus 27 machen immer erst 47 nach Adam Riese — diese halben Kinder nehmen ihren Konflikt tragisch? Nein! Du bleibst hier, und ich schreibe ihnen nur zwei Postkarten, mehr ist die Sache wirklich nicht wert. Wir werden ja dann sehen, was geschieht und haben immer noch Zeit, alles einzulenken.”

Nach kurzem Bedenken hatte Gräfin Wilhelmine zugestimmt, und fast hatte es den Anschein, als werde auch ohne Zutun der Eltern der Friede wieder hergestellt werden; denn acht Tage lang war von den strittigen Parteien nichts zu hören. Dann aber kam wieder ein Brief der jungen Frau, der die Eltern in gelinde Unruhe versetzte. Die Freifrau schrieb:

„Liebe Eltern!

Eure kurze Postkarte auf meinen langen Brief hat mich sehr niedergeschlagen; denn ich ersehe daraus, daß Ihr die Verhältnisse doch wohl nicht im richtigen Lichte betrachtet. Es bandelt sich nicht, wie Ihr wohl annehmt, um eine alltägliche Meinungsverschiedenheit zwischen Otto und mir, sondern um einen Bruch für das ganze Leben. Otto hat mich nach einem Gespräch, das von ganz geringfügigen Dingen ausgehend schließlich zu scharfen Erklärungen führte, mit der Reitpeitsche über den Arm geschlagen, und ich bin willens, um dieser groben Mißhandlung willen die Scheidung einzureichen. Ich habe mich bereits in vorsichtiger Weise über die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen informiert, die durchaus für mich sprechen. — Und nun trage ich Euch die Bitte vor: Ich möchte zu Euch nach Hohen-Wustrau übersiedeln. Otto ist vorgestern nach Hannover gefahren und bleibt dort fünf Wochen (es ist ein Instruktionskursus auf der Reitschule). Er soll bei seiner Rückkehr mich nicht mehr im Hause vorfinden.

Ich sehe Eurer lieben Antwort recht bald entgegen und bin

Eure gehorsame Tochter
Eugenie.”

An diesen Brief knüpft sich eine lange Erörterung zwischen dem alten gräflichen Ehepaar. Mama war zuerst empört über die „Brutalität” des Schwiegersohnes, sah aber bald die Dinge in milderen Lichte, als der Graf seine ruhigen Einwendungen gemacht hatte.

„Zugegeben, Minchen, ein Peitschenhieb ist nicht sehr gentlemanlike. Aber liebe Frau, ein Mann tut so etwas doch auch nicht, wenn gar nichts vorausgegangen ist. Eugenie hat eine unangenehme Art, spitze Bemerkungen zu machen, und ich erinnere mich, daß du selbst ihr manchen Denkzettel verabreicht hast, wenn sie einen gar zu losen Mund hatte.”

„Ja, das ist allerdings wahr, Theodor — aber —”

„Kein aber, liebe Wilhelmine. Die Sache ist so gewesen, glaube mir: Er hat schon im Dienst Aerger gehabt und mußte, als er nach Hause kam, ihre Malicen hinnehmen. Und da erfahrungsgemäß Ihr Frauen in Punkto Dialektik jeden Wann schlagt, so hat er sich schließlich hinreißen lassen und sie mit der Peitsche gestreift. Er ist siebenundzwanzig, und in dem Alter ist man noch nicht Stoiker. Die Schuld dürfte, wie stets, auf beiden Seiten liegen.”

„Wenn sie herkommt, wollen wir die Sache aufklären, lieber Theodor.”

„Ja — aber vorläufig kommt sie nicht. Mag sie zuvörderst einmal empfinden, wie es ist, wenn man fünf Wochen vom Gatten nichts hört und sieht. Dieses Kommando Ottos zur Reitschule kommt mir sehr à propos. Gegen Pfingsten werden wir dann weitersehen.”

Dieses Gespräch hatte Anfang Mai stattgefunden, und nun war der liebe Juni mit seinem Blumenduft und Vogelfang eingekehrt, und das Pfingstfest stand vor der Tür.

An den Blicken seiner Gattin merkte der alte Graf, daß sie etwas auf dem Herzen hatte, und er brauchte auch gar nicht zu fragen; denn ihm war ebenso zu Mut: draußen alles in Frühlingswonne und junger Lenzfreude, und im Herzen die Sorge um die jungen Leute, die sich noch immer nicht zurechtfinden konnten und noch keinen Schritt zur Annäherung gemacht hatten.

Drei Tage vor dem Fest ging eine Postkarte von Hohen-Wustrau nach Berlin ab: „Wir werden uns freuen, dich zu Pfingsten hier zu sehen.”

Eugenie, die immer noch allein war, packte einen Koffer und fuhr mit der Stettiner Bahn hinaus nach dem elterlichen Gut. An der kleinen Bahnstation wartete schon der Jagdwagen des Vaters, und der alte Bleihase, das Faktotum des Hauses seit zwei Generationen, begrüßte sie mit beinahe väterlichem Lächeln.

„Guten Tag, Papa Bleihase! — Da bin ich wieder einmal.”

„Guten Tag, Frau Baronin! Is man gut, daß die gnädige Frau da sind. Nu wird's doch Pfingsten wie sonst.”

„Wie sonst!” Das Wort klang der jungen Frau im Herzen, als sie durch die grünen, blühenden Felder die alte Kirschenallee entlang und dem fernen Kirchturm entgegenfuhr. „Wie sonst!” Nein, nicht wie sonst! Er — er war ja nicht da! Hier, diese selbe Straße war er vor zwei Jahren als Bräutigam gekmmen, so stattlich und schlank in der Ulanen-Uniform; hier waren sie entlang gefahren, vor einem Jahr, eng aneinander gelehnt und sich in die Augen blickend, als sie die Eltern zum Pfingstfest begrüßten. Dort drüben, wo das Bächlein sich am Gutspark entlangwindet, hatten sie im Gras gesessen und den Blumen nachgesehen, welche ihre Hand in das Wässerchen hinabwarf. Vorüber — vorbei!

Eugenie biß die Zähne zusiunmen und hielt den Sonnenschirm vors Gesicht, damit der alte Blcihase auf dem Kutscherbock es nicht merkte, wenn sie schluchzte. Ihr war so weh, so weh wie noch niemals zuvor. Und dann noch die Furcht vor dem strengen Papa und der milden, aber doch oft so ernsthaften Mutter. Sie würden gewiß zürnen. Gewiß der Tochter energisch den Text lesen!

Aber eS kam anders, als sie erwartet hatte. Die Eltern empfingen ihr Kind mit der alten, herzlichen Liebe und taten so. als ob nicht das Mindeste vorgefallen sei. Ja, Papa machte sogar beim Mittagessen einige seiner altbeliebten Scherzchen und kniff seinen Liebling in die Backen: „Brauner Trotzkopf!”

Am Abend dieses Tages — es war der Abend vor dem Fest — nahm der alte Graf Jagdmütze und Stock, um, wie er sagte, in der Wirtschaft nach dem Rechten zu sehen. Er warf aber nur einen flüchtigen Blick in den Kuhstall und hinten auf die Wiesen, wo der erste Heuschnitt aufgesetzt wurde, und schritt nach der Bahnstation, um ein Telegramm aufzugeben. Auf dem Rückwege sprach er dann noch bei seinem alten Freunde Heinemann, dem Pfarrer, vor, mit dem er ein kurzes Zwiegespräch hatte.

Während dieses Ganges saßen Mutter und Tochter auf der Gartenterasse und sprachen von tausend Dingen, nur nicht von dem Einen, das ihre Seele beschäftigte. Endlich, als die Stunde der Ruhe gekommen war, ließ die Gräfin eine halbe Bemerkung fallen.

„Du bleibst also nun bei uns, so lange Du willst, Kind,” sagte sie mit ernstem Gesichtsausdruck. „Soviel ich weiß, hat Papa Schritte getan, um Deinen Wünschen nachzukommen. Ich will dir aber nicht verhehlen, daß wir sehr traurig über Euer Zerwürfnis sind. Und nun gute Nacht, mein Kind! Morgen um 8 ist Frühstück und um 10 ist Kirche. Schlafe wohl!”

Eugenie küßte der Mutter den grauen Scheitel und ging hinauf in ihre Mansarden-Mädchenstube. Lange lag sie wach, und immer wieder hörte sie die schrecklichen Worte: „Papa hat Schritte getan —” Nun wurde eS doch Ernst — und wielange schon tat ihr der Vorfall sehr leid! Sie war ja auch schuld gewesen! Und eigentlich hatte er sie mit der Peitsche kaum berührt. — —

Freundlich begrüßt von den Dorfbewohnern und dem Hausgesinde ging die Familie Wustrau am nächsten Morgen zum Gotteshause. Kantor Schmidtke spielte mit allen Stimmen den ergreifenden Pfingstchoral: O heil'ger Geist, kehr' bei uns ein, und dann sprach der greise Heinemann in seiner schlichten, tiefen Weise über die Bedeutung deS Tages. Er erinnerte an den historischen Vorgang, wob Frühlingsbetrachtungen hinein und schloß mit der Ermahnung zu eigener sittlicher Erziehung. „Denn daS ist die Bedeutung der Ausgießung des heiligen Geistes, daß wir die Liebe des allmächtigen Vaters in unsere Herzen aufnehmen und wirken lassen, also daß wir versöhnlich und freundlich durch dieses Leben gehen, entgegen der großen Psingstfreude da droben — Amen!”

Sie hatten andächtig gelauscht, nnd der alte Graf hatte einmal den Kopf gewendet, als draußen ein Wagen im scharfen Trab vorbeirasselte.

Die Kirche war aus, die Herrschaften erhoben sich.

„Du gehst wohl voraus, Eugenie,” sagte der Graf, „richte immer das Frühstück an. Mama und ich wollen noch mit dem Pfarrer sprechen.”

Die junge Frau ging langsam durch das Dorf und dann durch den Park. „Versöhnung” hatte der Pastor gesagt, „Versöhnung,” klang es in ihrem Herzen. Und als sie nun um das Fliedergebüsch bog und vor der Gartenterasse stand —, da — da — der blaue Rock mit dem roten Kragen — — —

Otto — — Eugenie — verzeih' — verzeihe mir!”

Sie warf sich in seine Arme und die Vöglein droben in der Linde jubelten ihr fröhliches Psingstlied. —

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